Sonntag, 13. Mai 2018

Holy child - Wir haben ein Kind mit Down-Syndrom


In der Nacht wurde Michel mir gebracht. Er war inzwischen wieder im Kinderzimmer der Frauenklinik. Ich war in ein Dreibettzimmer zu zwei anderen Niedergekommenen gelegt worden. Michel war aufgewacht und ich wollte ihn stillen. Das klappte nicht. Die Frau, die ihn gebracht hatte, Schwester oder Hebamme, drückte an meiner Brustwarze und wurschtelte mit Michel herum und ich konnte mich nicht richtig bewegen, weil ich noch arge Schmerzen nach dem Kaiserschnitt hatte. Die Situation war sehr unbefriedigend. 
 
Wir hätten viel mehr Zeit und Zärtlichkeit gebraucht, Michel und ich. Beides gewährte uns die Schwester nicht. Sie sagte, sie müsse wieder zurück ins Kinderzimmer und würde ihm ein Fläschchen geben, weil er „doch groß werden“ müsse. Ich wollte aufstehen und mitgehen und das Stillen dort versuchen, aber das packte ich noch nicht. 

Das mit dem Stillen hat nie wirklich geklappt. Und es war ein solches Ideal von mir! Ich hatte zwar enormen Milcheinschuss die beiden Tage nach der Geburt, mit dicker, heißer Brust, aber dann kam nie viel Milch heraus. Ich versuchte, den Milchfluss durch Abpumpen in Gang zu bringen, weil Michel beim Stillen manchmal schier nichts herauszog. Er wurde vor und nach dem Stillen aufs Gramm gewogen. Aber es kamen kaum mehr als 20 ml pro Brust. 

Nachdem wir das auch zuhause ein paar Wochen lang praktiziert hatten: Stillen (der Versuch), Fläschchen geben, abpumpen, heulte ich mich darüber einmal bei meiner Hebamme, die zu uns ins Haus kam, aus - auch über den miserablen Start in dieser ersten Nacht und dass ich mich gegen diese raue Schwester nicht gewehrt hatte. 

Aber nach einiger Zeit sah ich auch das Geschenk für mich in dieser Gegebenheit, denn dadurch, dass ich nicht stillte, bekam ich Freiraum. Ich konnte z.B. zu meinem monatlichen Tarot zu Shakti fahren. 

Und: Ich verzieh meiner Mutter, die mir gesagt hatte, das mit dem Stillen habe nicht geklappt als ich ein Säugling war. Vorher grollte ich ihr und unterstellte ihr innerlich, sie habe es nicht gewollt, es mir aus Bequemlichkeit oder warum auch immer vorenthalten, und dann sagt sie mir, es ging halt nicht, und ich stehe da und kann nichts dagegen tun, keine Zärtlichkeit einfordern, keinen Körperkontakt. Jetzt ging es bei mir auch nicht, obwohl ich  es so sehr wollte.

Michel und ich sind Michel und ich, auch ohne gelungenes Stillen. Unsere Beziehung hat Zärtlichkeit und Innigkeit. Ich meine sogar, dass es genau so, wie es gewesen ist, ein größerer Segen ist, als wenn es geklappt hätte, weil es in mir dieses Verzeihen meiner Mutter gegenüber bewirkt hat. 

Michel hat heilende Kräfte, allein durch sein Da-Sein. Das habe ich in der Auswirkung auf andere schon des Öfteren wahrgenommen, aber … anscheinend wirkt das auch auf mich. 

… - …
Ich habe überlegt, wie ich jetzt weiter schreiben soll, ob ich all das, was in der Klinik war, aufschreiben soll und: Ich habe meinen Artikel für die Zeitschrift zum Down-Syndrom gelesen. Der bringt alles so gut zum Ausdruck, mein Empfinden und Erleben, und ich füge ihn jetzt, so, wie ich ihn abgeschickt habe, hier ein:

Wir haben ein Kind mit Down-Syndrom

Er heißt Michel und wurde am 20. April 2007 geboren. Die Geburt war ein geplanter Kaiserschnitt, weil ich Myome in der Gebärmutter hatte und der natürliche Weg nicht frei war. 

Wir wussten das vorher nicht, dass Michel das Down-Syndrom hat. Wir hatten keine Fruchtwasser-Untersuchung machen lassen, denn wenn da „was festgestellt“ worden wäre … man weiß doch nie, was das für ein Mensch ist, der da rauskommt, und ich hätte mir/wir hätten uns dann nur ein paar Monate lang Sorgen gemacht. Um ungelegte Eier quasi. 

Die Geburt war – ich weiß nicht, wie ich das be-schreiben soll. So ganz neu, noch nie da-gewesen. - Am Tag vorher war ich traurig, dass morgen die Schwangerschaft zuende sein sollte. Und ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen,  dass das Kind dann da wäre. (Michel ist mein erstes Kind und ich war 42 als er zur Welt kam.) - Und es war dann so: Ich konnte garnichts machen, war völlig ausgeliefert, musste mich dem, was (mit mir) geschah einfach hingeben, vertrauen, den Geschehnissen, den Menschen. -  Und ich wurde getragen, gehalten. Alle waren sehr professionell und jede/jeder auf seine ganz individuelle Art menschlich und klasse. Diese Geburt war klasse! Für mich. Von außen betrachtet wahrscheinlich gar nichts Besonderes und halt ein sehr irdischer Vorgang, noch dazu nicht besonderes natürlich. – Ich hatte die Vorstellung, früher mal, falls ich je ein Kind gebären sollte, dann würde ich das in einer roten Höhle, die man sich ja zu diesem Anlass hätte einrichten können mit Tüchern und Decken, und bei Trommelmusik tun. – Und jetzt lag ich da in der Uni-Klinik (!! Noch nicht mal in einem  Geburtshaus oder einer Hebammen-Praxis, geschweige denn zuhause!), im gekachelten und gestählten OP-Raum (!! Noch nicht mal in einem der hübschen Entbindungszimmer!) und Musik lief auch keine, jedenfalls habe ich keine wahrgenommen, aber irgendwie, ich weiß auch nicht, war nicht nur die irdische Ebene präsent, sondern das waren alles Engel in Menschengestalt und ein paar unsichtbare Engel waren auch noch da. Das war nicht rein irdisch. Oder vielleicht irdischer als sonst. Ich war so ganz tief drin, so verbunden und doch so weit weg, so frei. Ich kann das nicht beschreiben, mir fehlen die Worte dafür.

Schlecht war mir auf einmal auch, von der Spinal-Betäubung. Als sie mich zugenäht hatten und ich Michel das erste Mal in den Arm gelegt bekam, hatte ich Angst, ich müsste mich übergeben. Musste ich aber nicht. Und sie haben mir den Michel auch nicht lange gelassen, sondern wieder weggenommen und irgendwas gesagt von „muss in die Kinderklinik“, und irgendein Wert sei „nicht gesättigt“. Ich war nicht ganz klar. D. saß neben mir, Michels Papa. Dann kam ein Kinderarzt ins Zimmer, in rotem Kittel, der setzte sich ans Fenster und erzählte in etwas bemüht unbeschwertem Tonfall und ein bisschen gezwungen heiter aufgesetzter Miene was von Verdacht auf Down-Syndrom und es würde noch eine Blutuntersuchung gemacht werden, um sicherzugehen.  Ich sah vor meinem inneren Auge Gesichter von Menschen mit Down-Syndrom, von „gesund, halt nur anders“ mit dem Gefühl: ‚Dieser Mensch ist eine Bereicherung für seine Mitmenschen‘ bis „liegt im Spagat mit dem Oberkörper flach auf dem Boden, rollt die Zunge im offenen Mund und kann auch sonst nichts“ mit einem beklemmenden Gefühl von Betroffenheit und Hilflosigkeit. Und ich dachte: ‚Was redet der da? Mein Kind?‘ und ich wollte es nicht wahrhaben. 

Den Rest des Tages verbrachte ich“ im Tran“ und dann fingen auch die Schmerzen an, als die Betäubung nachließ. Trotzdem war ich da schon in diesem „behüteten Space“ , der die ganze erste Woche von Michels Leben, die wir in der Klinik verbrachten, da war.

Michel sah ich dann wieder in der Nacht als ihn mir eine Hebamme aus dem Kinderzimmer brachte weil er aufgewacht war und Hunger hatte. Da hatte er die Augen zu. Und den ganzen folgenden Tag machte er sie auch nicht auf, auch nicht, wenn er wach war. Und ich dachte: ‚Ach, der wird das nicht haben. Die irren sich. Der Befund der Blut-Untersuchung wird negativ sein.‘  Aber als er die Augen das erste Mal aufmachte, da sah ich, dass er „es“ doch hat. Als ich mit D. telefonierte, sagte ich ihm das. Dass Michel „das“ hat. Naja. Und dann hat er’s halt. D. wusste sowieso nicht so recht, was das überhaupt ist. Ich selbst hatte schon Menschen mit Down-Syndrom kennengelernt als ich im Rahmen meiner Erzieher-Ausbildung ein Praktikum in einer Behinderten-Werkstatt gemacht hatte. (Wie es mir widerstrebt, dieses „Behinderten“-Werkstatt zu schreiben. Heißt das eigentlich wirklich so oder führt es eine andere Bezeichnung? ) Aber ich kannte nicht wirklich einen, bei uns im Ort oder in der Umgebung, da war weit und breit keiner. O wei! Michel, mein Sohn – der einzige Mensch mit Down-Syndrom weit und breit! Meine erste Angst war, dass meine Nachbarn oder andere Rüpel zu Michel „Spast“ sagen könnten und zu mir: „Selbst schuld! Bist schon so alt!“ – Diese Angst ist übrigens völlig verschwunden und sollte wirklich mal einer sowas sagen, würde ich ihm für den „Spast“ eine scheuern, denke ich im Moment, und dem „selbst schuld, weil zu alt“ gar keine Beachtung schenken.

Als Nächstes überlegte ich mir, was ich geantwortet hätte, wenn ich vorher, vom Himmel oder so, gefragt worden wäre, ob ich ein Kind mit Down-Syndrom nehmen würde oder gar will. Und ich erkannte, dass ich mich nicht getraut hätte, JA zu sagen, eben weil ich mich nicht getraut hätte, so aus dem Rahmen zu fallen, aber jetzt, wo ich’s hatte, da fühlte ich mich zutiefst geehrt und aufs Wunderbarste beschenkt. Dieses Empfinden keimte da schon mit Macht in mir auf. Da ahnte und wusste ich schon, dass das mit Michel nichts Schlimmes ist, sondern eher so eine Art Zugabe. Halt ein Chromosom mehr in jeder seiner Abermillionen Zellen.

 Aber zwei, drei Tage, um den Sachverhalt wirklich vollkommen anzunehmen, habe ich schon gebraucht. Ich habe nicht wirklich dagegen angekämpft. Ich habe nicht gedacht: ‚Warum ich/warum wir? Kann er nicht einfach „normal“ sein?‘ - Irgendwie hat mein tiefstes Inneres sich da schon hüpfend gefreut über dieses ganz besondere Geschenk. - Im ersten Moment wollte ich es nicht wahrhaben, wie gesagt, aber eher mit der Intention, dass ich nicht (schon wieder, oder vielleicht eher: so offensichtlich) anders sein wollte als die anderen, dass ich meinte, mich das nicht zu trauen, dachte, ich hätte nicht den Mut dazu. Aber ich bin ganz schnell und sanft dahin gekommen, zu empfinden, dass es gar keinen Mut braucht, dass es einfach selbstverständlich so ist, dass es nur Annahme braucht und dass es eine – am liebsten würde ich jetzt schreiben: gewaltige – eine große Ehre und das allerschönste Geschenk ist, das mein Leben mir gemacht hat, bis jetzt, Michels Mama zu sein.

Das mit dem „einen Chromosom mehr in jeder seiner Abermillionen Zellen“ ist übrigens eine Aussage von Conny Rapp in ihrem  Foto-Buch „Außergewöhnlich“ (7). Das hatten sie in der Klinik im Schwesternzimmer und gaben es mir zur ersten Info. Ich glaube, dieses Buch hat mir auch gleich geholfen, das Ganze sanft anzunehmen, (Hirn-)Gespinste zu neutralisieren, gar nicht erst aufkommen zu lassen, einfach durch die Bilder und durch die wenigen Texte. Für mich war das gerade das Richtige für eine erste Info. Für mich war an diesen ersten Tagen in der Klinik sowieso alles „irgendwie genau richtig“. Ich habe mich so beschützt und geführt gefühlt.

Am dritten oder vierten Tag, als das positive Ergebnis des Bluttestes dann auch vorlag, gab uns der „Kinderarzt im roten Kittel“  ein Informationsgespräch über das Down-Syndrom. Das war auch klasse! Wie soll ich das sagen? Die Menschen waren alle so wunderbar, so bemüht um uns und um Michel. So voller Liebe. Die haben ihn auch einfach gleich (an)genommen, wie er war, und vielleicht uns zwei, Vater und Mutter, erstmal etwas beäugt, wie wir das Ganze aufnehmen und damit umgehen. Dr. Faas (im roten Kittel) sagte in diesem Gespräch auch, dass viele Eltern, die ein Kind mit Down-Syndrom bekommen, erstmal eine ganze Woche lang weinen. Geweint hatte ich auch, aber die ersten Tränen, wegen des erkannten Down-Syndroms, das waren irgendwie so Unsicherheitstränen, im Sinne von: in so einer Situation muss man weinen, und die nächsten Tränen, die ich wegen Michels Down-Syndrom vergoss, die waren, weil ich so berührt war von Texten aus Conny Rapps Buch, als sie das schreibt mit den Schutzengeln und die Geschichte von „Holland statt Italien“.

Es war heilig, was geschehen ist. Die ganze Zeit in der Klinik habe ich das so empfunden. Und als wir nachhause kamen, war der Raps hinter unserem Hof ganz hochgewachsen und blühte üppig. Wir saßen auf der Bank in der Sonne und auch hier fühlte ich, dass das alles genauso sein soll (!!!!), dass das höhere Fügung ist, ein Geschenk des Himmels, dass wir beschützt und geführt sind. Die Amseln in unserem Garten hatten auch Junge bekommen. Schröder, unser Hund, hat mal kurz über Michel drüber geschnuppert und war dann gar nicht weiter an ihm interessiert. Das hat gut geklappt mit Michel und Schröder, denn ich dachte vorher, vielleicht könnte es da Schwierigkeiten geben, weil Schröder solange als Hund ohne Kind war. Auch die Katzen haben sich prima in die neue Situation eingefunden, die durften nämlich mit Michels Ankunft nicht mehr überall  auf den Sesseln und dem Sofa liegen, sondern nur noch im Flur. Und das haben sie ohne großes Aufhebens getan.

 Meine Eltern, Michels Oma und Opa, waren wohl zuerst etwas betroffen. (Sie selbst haben, als ich sieben Jahre alt war, ein Kind verloren, von dem es hieß, es wäre „behindert“ gewesen. Es starb einen Tag nach seiner Geburt. ) Michels andere Oma wohnt in Wuppertal, die ist etwas weiter weg und konnte nicht in die Klinik kommen. (Wir leben in Hessen in der Wetterau und die Klinik war die Uni-Klinik in Gießen.) Die hat auch die ersten Tage über „dieses Schicksal“ geweint. Auch sie hat eine Vorgeschichte: Ihre Schwester hatte ein Kind mit Down-Syndrom, ein kleines Mädchen, das nach fünf Monaten starb. … Jetzt lieben sie den Michel alle heiß und innig und sein Down-Syndrom ist kaum Thema. – Ich habe nur positive Erfahrungen gemacht. Mir fällt kein einziger ein, der komisch geschaut oder eine blöde Bemerkung gemacht hätte wegen Michel. Ich selbst bin noch am … ausprobieren, wie ich damit umgehe. Am Anfang habe ich immer gleich gesagt:“Er hat das Down-Syndrom.“ Weil ich nicht wollte, dass jemand denkt, ich wolle das verheimlichen. Dann habe ich gemerkt, dass ich diese Erklärung gar nicht immer geben will. Michel ist Michel. Und dieses „Er hat das Down-Syndrom“ erzeugt meines Empfindens nach manchmal so viele Konstrukte, Vorstellungen, (Hirn-) Gespinste, die uns unserer Freiheit berauben. Der Freiheit, so zu sein, der Freiheit, einfach einander zu begegnen, ohne vorgefasste Meinungen. – Aber: Ist das nicht, auch wenn jemand kein Down-Syndrom hat, auch so? … Hm? …

Mir begegnen z.Zt. „an jeder Ecke“ Menschen, die mir von den Besonderheiten ihrer Kinder erzählen: Der eine hat mit über einem Jahr noch keine Zähne, die andere rollt sich nur über den Boden und will mit 15 Monaten noch nicht krabbeln und der nächste hat mit drei Jahren nur „Gäng-gäng“ gesagt – später in der Schule war er in Deutsch der Beste. Mir erzählt also gerade jeder, wie groß die Vielfalt menschlicher Entwicklung und menschlichen Ausdruckes ist, unabhängig davon, ob da eine genetische Veränderung diagnostiziert ist oder nicht. Auch die Unsicherheiten, die ich habe, z.B. ob ich auf mein Gefühl hören soll oder auf den Rat des Kinderarztes, der etwas anderes sagt, hat nichts mit Michels Down-Syndrom zu tun. Das haben Mütter „normaler“ Kinder auch. … - … - … Uns fehlen so viele Begriffe! Bzw. wir haben so viele Begriffe, die uns so sehr einschränken!!!  Richtig schlimm ist das!! „Normal“, „behindert“ … und überhaupt die Vorstellungen, wie was zu sein hat. Damit schneiden wir uns vom Leben ab. Von der Liebe, von der Freiheit, von der Lust am Leben, vom tiefen, tiefen Frieden.



Ich bin so dankbar für den Michel! Was durch ihn alles neu wird! Neu, noch nie dagewesen und so wunderbar! Allein, dass ich jetzt hier sitze und diesen Artikel geschrieben habe für die Zeitschrift KIDS, ob er nun gedruckt wird oder nicht, setzt in mir Prozesse in Gang und öffnet bisher Verschlossenes in mir was mich glücklich und frei macht. Und das wünsche ich auch meinem Kind: Ein glückliches und freies Leben! Und uns allen!


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